Kapitel 3: Schritt 1 Pflegebedarf diagnostizieren
Autoren: Helge Gustke, Lars Pongrac & Miriam Struve
Der erste Schritt des Pflegeprozesses („Pflegebedarf diagnostizieren“) ist durch die kriteriengeleitete Erhebung bzw. Diagnostik des individuellen Pflegebedarfes gekennzeichnet. Sie markiert den Ausgangspunkt pflegerischer Entscheidungsfindung, auf dem alle weiteren Schritte aufbauen und zieht sich als einzige Phase durch alle folgenden Prozessschritte hindurch. Dies wird deutlich, wenn man bedenkt, dass Pflegende den Pflegebedarf kontinuierlich und über den gesamten Pflegenutzungszeitraum hinweg diagnostizieren und anpassen müssen, um eine bedarfsorientierte und individuelle Pflege zu gewährleisten.
Die Erfassung des individuellen Pflegebedarfes geschieht, in dem pflegerelevante Daten zunächst strukturiert erhoben und anschließend diagnostisch bewertet werden. Womit zugleich die beiden zentralen Schwerpunkte des ersten Schrittes im Pflegeprozess definiert sind: das sogenannte Pflegeassessment (oder die Pflegeanamnese) als Methode der strukturierten Informationssammlung und die darauffolgende „diagnostische Beurteilung“.
Nachfolgend werden die zentralen Elemente des ersten Prozessschrittes vorgestellt und miteinander in Beziehung gesetzt:
Kriteriengeleitete bzw. systematisierte Erhebung pflegerelevanter Daten
Wichtig ist, dass die Erhebung pflegerelevanter Daten nicht willkürlich und unstrukturiert erfolgt. Sie sollte vielmehr kriteriengeleitet und unter Berücksichtigung einer entsprechenden Systematik durchgeführt werden. Weit verbreitet ist die Datenerhebung anhand des sogenannten ABEDL-Strukturmodells nach Monika Krohwinkel. Die Anwendung dieses Modells stellt sicher, dass pflegerelevante Daten möglichst vollständig erfasst und geordnet werden können. Dies geschieht, indem die Informationen, in Form von Bedürfnissen, Fähigkeiten und Ressourcen erhoben und in dreizehn miteinander in Beziehung stehende Dimensionen eingeordnet werden.
Solche oder ähnliche Strukturierungshilfen, ermöglichen pflegerischen Berufsanfängern, pflegerelevante Daten gezielt zu erheben und gedanklich zu sortieren. Mit zunehmender Berufserfahrung werden diese Strukturen mehr und mehr verinnerlicht und damit automatisch im gedanklichen Prozess berücksichtigt.
Mit den von Krohwinkel benutzen Begrifflichkeiten „Bedürfnisse, Fähigkeiten und Ressourcen“ wird deutlich, dass nicht nur problemfokussierte Daten im Sinne von Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen im Abgleich mit gesunden Menschen zu erheben sind, sondern vielmehr eine ganzheitliche Betrachtung angestrebt werden sollte, die auch die vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten (Ressourcen) sowie die jeweiligen Wünsche und Vorstellungen des Pflegenutzers mitberücksichtigt.
Beispiel
Problem: Frau Rita Wilk hat bei einem Unfall einen Schienbeinbruch links (Tibia Fraktur links) erlitten. Durch eine schnelle Operation konnte die Fraktur gerichtet und stabilisiert werden. Um die Heilung nicht zu gefährden, darf Frau Wilk das linke Bein mehrere Wochen nach der OP nicht vollständig belasten (maximale Belastung mit 15 kg Körpergewicht = eingeschränkte Bewegungs- bzw. Belastungsfähigkeit).
Fähigkeiten/ Ressource: Frau Wilk kann sich nach einem Gehtrainig mit der Physiotherapeutin (Krankengymnastin) sicher mit zwei Unterarmgehstützen fortbewegen. Zudem hat Frau Wilk nach erfolgter Übungssequenz ein Körperempfinden für eine Belastung des linken Beines bis ca. 15 kg.
Bedürfnis: Frau Wilk äußert im Rahmen des pflegerischen Anamnesegesprächs den Wunsch, in naher Zukunft wieder lange Wanderungen mit ihrem Partner unternehmen zu können. Besonders wichtig ist es für sie, dass sie für ihr Wohlbefinden selbstständig die Toilette aufsuchen kann und für ihre Ausscheidungen nicht abhängig von Pflegenden ist.
Aufgabe 5:
Das Modell der fördernden Prozesspflege nach Monika Krohwinkel ist ein Pflegekonzept, das sich auf die Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden der Pflegenutzerinnen und -nutzer konzentriert. Das Modell basiert auf der Annahme, dass jeder Mensch das Recht hat, seine Selbstständigkeit und Autonomie zu bewahren. Das Ziel der Pflege sollte es sein, die Pflegenutzerinnen und -nutzer zu befähigen, sich selbst zu versorgen und ihr Leben nach den eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Das Modell orientiert sich am Pflegeprozess und kann in allen Prozessschritten als eine Art Strukturierungshilfe genutzt werden.
Das Modell der fördernden Prozesspflege betont die Wichtigkeit, die Pflegenutzerin bzw. den Pflegenutzer als Partner bzw. Partnerin in der Pflege anzusehen und zugleich die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Person in den Mittelpunkt zu stellen. Auf diese Weise kann das Modell dazu beitragen, dass die Person ein Gefühl der Kontrolle über die Gesundheit und das eigene Leben behält, was sich positiv auf die Gesundheit und das Wohlbefinden auswirkt.
Das ABEDL-Strukturmodell (Aktivitäten, soziale Beziehungen und existenzielle Erfahrungen des Lebens) ist ein Konzept, das im Rahmen der fördernden Prozesspflege von Monika Krohwinkel entwickelt wurde. Es basiert auf der Idee, dass Menschen, die aktuell professionelle Pflege nutzen, in ihrer Fähigkeit, alltägliche Aktivitäten auszuführen und existenzielle Erfahrungen zu machen, unterstützt werden müssen, um ihre Selbstständigkeit und Autonomie zu erhalten.
Das Modell unterteilt diese Aktivitäten in 13 Kategorien:
Unter Berücksichtigung der ABEDL können die Fähigkeiten und Einschränkungen eines Menschen gezielt am Anfang des Pflegeprozesses erhoben, sowie Maßnahmen abgeleitet, durchgeführt und evaluiert werden.
Der zeitliche Verlauf ist eine weitere Möglichkeit, pflegerelevante Daten strukturiert zu erheben. Hier ist die individuelle Lebensgeschichte (Biografie) der Pflegenutzer Ausgangspunkt und Strukturierungshilfe für die Datenerhebung zugleich (siehe Abbildung unten). Ziel dieses Vorgehens ist es, einen Zusammenhang zwischen der Lebensgeschichte und der jeweiligen aktuellen Situation sowie den individuellen Vorstellungen über die Zukunft herzustellen.
Beispiel:
Die Erhebung der Stuhlgewohnheiten eines jungen Mannes, der aufgrund einer Kopfplatzwunde zunächst in Lokalanästhesie (örtliche Betäubung) chirurgisch versorgt werden muss und im Anschluss eine Nacht zur Beobachtung in der Klinik verbleibt, kann wohl in den meisten Fällen als wenig bedeutsam für die weitere pflegerische Versorgung eingestuft werden.
Beim Pflegeassessment bzw. der Pflegeanamnese handelt es sich im Grunde genommen um eine strukturiert-kriteriengeleitete und meist sehr ausführliche Informationssammlung, die …
Merke: Die Informationssammlung beginnt bereits beim ersten Kontakt mit dem Pflegebenutzer und seinen Bezugspersonen; sie wird so bald als möglich vervollständigt, wobei sie niemals „vollständig“ sein kann, da während des gesamten Pflegeprozesses eine fortlaufende Informationssammlung in Form eines kontinuierlichen Assessments stattfinden muss.
Aufgabe 6: Bearbeiten Sie den nachfolgenden Lückentext, indem Sie die unten stehenden Begriffe in die entsprechenden Felder eintragen.
Informationen – Pflegeprozesses – Lebenssituation – Ressourcen – Fremdeinschätzungen – Grunddaten – Anamnesegespräch – Gewohnheiten – pflegerelevanten Informationen – Selbsteinschätzung – Pflegefachkraft – wahrnehmen
Lückentext: Die Informationssammlung im Pflegeprozess
Dieses Lernarrangement zitierst du so:
Gustke, H., Pongrac, L. & Struve, M. (2021). Pflege prozesshaft gestalten. TafakariHub. https://tafakari.de/tafakarihub
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