Tafakari

Menschen mit Demenz begleiten

Kapitel 5: Mit der individuellen Biografie des Menschen mit Demenz arbeiten

Autoren: Lars Pongrac & Miriam Struve

Biografische Interventionen liegen in großer Anzahl vor. Ausgangspunkt dieser Verfahren sind die Informationen aus dem Lebenslauf der zu pflegenden Personen. Ganz grundsätzlich lassen sich zwei Arten von biografischen Informationen unterscheiden. Dies sind zum einen historische Ereignisse und Lebensbedingungen, die mehr oder weniger zu den Erfahrungen aller Menschen einer Altersgruppe gehören und zum anderen individuelle Erlebnisse, Gewohnheiten und Interessen. Letztere sind von Person zu Person sehr unterschiedlich, selbst wenn die Person derselben Generation angehört.

Alle bisher genannten Modelle, mit Ausnahme des ROT, lassen sich in die Kategorie der biografie- und personenorientierten Modelle einordnen. Diesen Modellen ist gemeinsam, dass sie versuchen, auf der Grundlage eines verstehenden, hermeneutischen Vorgehens die psychosozialen Bedürfnisse der Menschen mit Demenz zu erkennen, um auf dieser Basis eine bedürfnisorientierte Pflege zu erreichen. Hierbei spielt die Gefühls- und Beziehungsarbeit zwischen Pflegepersonen und Menschen mit Demenz eine zentrale Rolle. Naomi Feil sieht die im Rahmen einer Demenzerkrankung auftretenden Verhaltensstörungen als Ausdruck eines psychischen Hospitalismus. Tom Kitwood wendet sich gegen die ausschließliche Sichtweise der Demenz als einem hirnorganischen Geschehen. Feil und Böhm interpretieren psychische Krankheiten und Verhaltensstörungen als Antwort auf Belastungen und/oder unerträgliche Lebenssituationen und damit als einen Versuch der Anpassung an die soziale Umwelt. Böhm verwendet hierfür den Begriff des regressiven Bewältigungshandelns“. Durch Kenntnis der Lebensgeschichte des Menschen mit einer Demenz vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund soll eine Rückeroberung der Vergangenheit“ erfolgen können.

„Wir sind als Pflegende Fragende, die nicht schon Bescheid wissen. Wir fragen, was geht eigentlich in einem Menschen vor.“ Böhm

Biografiearbeit

Das psychobiografische Pflegemodell nach Erwin Böhm

Das psychobiografische Pflegemodell bietet einen Ansatz, die Verhaltensweisen von verwirrten und desorientierten Menschen zu erklären, zu verstehen und dadurch eine individuelle, reaktivierende und bewohnerbezogene Pflege zu gewährleisten. 

Böhm geht davon aus, dass jeder Mensch durch seine Sozialisation, Kultur und individuellen Erfahrungen geprägt wird. Aufgrund dieser Prägung, welche innerhalb der ersten 25 – 30 Lebensjahre („Prägungszeit“) erfolgt, entwickelt der Mensch seine individuelle Normalität. Das heißt, für die individuelle Person ist das normal, was gewohnt und vertraut ist. Pflegen nach dem Normalitätsprinzip bedeutet in diesem Zusammenhang: das, was für den Betroffenen normal ist, erkennen, zulassen und ermöglichen. 

Weiter unterscheidet Böhm zwischen der Noopsyche und der Thymopsyche. Die Noopsyche ist der Teil des Seelenlebens, der den Intellekt, das heißt den kognitiven Anteil der Psyche betrifft. Die Thymopsyche hingegen betrifft die Affektivität und das Gemüt („Welt der Gefühle“). An Demenz erkrankte Menschen verlieren nach und nach die Kontrolle über ihre noopsychischen Anteile. Sie greifen daher automatisch auf die in der Prägungszeit gemachten und daher bekannten Erfahrungen, sowie darin erlernte Bewältigungsstrategien (Copings) zurück. Böhm spricht hierbei auch von der sogenannten „Psychobiografie“. Die Psychobiografie ist die Geschichte von Gefühlen, die im Laufe des Lebens von Bedeutung waren. Sie besteht aus vielen kleinen Storys, die immer wieder erzählt werden, beinhaltet Wertvorstellungen, Hoffnungen, Ängste und Sehnsüchte und sagt uns, was für einen Menschen wichtig ist. 

Da Menschen mit Demenz im Verlauf der Erkrankung immer weniger über den kognitiven Anteil der Psyche (Noopsyche) erreicht werden können, nutzen Pflegende den Zugang über die Thymopsyche. Dazu erheben sie die Psychobiografie der Betroffenen, die als Grundstein für die Interaktion mit Menschen mit Demenz herangezogen werden kann.

Milieugestaltung

Ein gewohntes Milieu vermittelt Sicherheit und Geborgenheit. Milieutherapie heißt: Eine Umgebung schaffen, in der der Bewohner sich zurechtfindet, die er erkennt und die ihm vertraut ist. In diesem Zusammenhang ist der Begriff Normalität von besonderer Bedeutung.

Der YouTube-Kanal „nubbo“ hat einen Mitschnitt eines Videointerviews des ORF mit Erwin Böhm veröffentlicht. Das Video haben wir Ihnen hier verlinkt.

Navigation

letztes Kapitel

nächstes Kapitel

Dieses Lernarrangement zitierst du so:
Pongrac, L. & Struve, M. (2020). Menschen mit Demenz begleiten. TafakariHub.

Copyright © 2021 Tafakari. All rights reserved.

error: Content is protected !!