Kapitel 4: Mit Menschen mit Demenz in Kontakt treten
Autoren: Lars Pongrac & Miriam Struve
Kommunikation ist die Grundlage aller Beziehungen. Mit anderen Menschen in Verbindung zu stehen ist ein fundamentales Grundbedürfnis. Für die persönliche Identität und das Selbstbewusstsein des Menschen ist es wichtig zu wissen, dass uns jemand versteht. Nicht nur, was wir denken oder durch Sprache ausdrücken, sondern was wir fühlen und was uns wichtig ist. Wenn die Fähigkeit zur Kommunikation aufgrund einer demenziellen Erkrankung immer mehr beeinträchtigt wird, kommt es oft zur Einsamkeit, Isolation und Frustration bei den Betroffenen. Dies gilt sowohl für die direkt von einer Demenz betroffenen Personen wie auch für deren nahestehende Personen. Durch die verschiedenen Symptome der Demenz ergeben sich im Verlauf der Erkrankung unterschiedliche Herausforderungen hinsichtlich der Kommunikation, die es zu bewältigen gilt. Hierbei ist das Erkennen und Benennen von Gefühlen für beiden Seiten äußerst hilfreich. Denn: Wenn Worte versagen, können durch Körpersprache, Mimik und Gestik immer noch Nachrichten vermittelt werden.
Aufgabe: Im Zusammenhang mit der Kommunikation unterscheiden wir grob zwei Ausdrucksmöglichkeiten: die verbale und die nonverbale Kommunikation. Ordne der jeweiligen Kommunikationsform die entsprechenden Karten zu!
Drag and Drop
Der Mensch beginnt, sobald er geboren wurde damit zu kommunizieren. Ein Neugeborenes kommuniziert seine Bedürfnisse durch erste Schreie und seine Umgebung reagiert in der Regel, indem sie es behutsam umsorgt. Das Baby fühlt sich verstanden und wohlbehütet. Es entwickelt Vertrauen und “weiß”, dass seine Nachricht angekommen ist. Für Menschen im Allgemeinen und besonders für Menschen mit Demenz ist dieses Vertrauen in das Verstandenwerden zentral.
Häufig verstehen wir Kommunikation lediglich als das Senden und Empfangen von gesprochenen Nachrichten. Das ist jedoch nicht mit effektiver Kommunikation gemeint. Etwa 90 Prozent der Kommunikation findet nonverbal und zum Großteil unbewusst und unabsichtlich statt. Es ist also enorm wichtig, sich diese Tatsache immer wieder bewusst zu machen, wenn wir mit Menschen mit Demenz in Kontakt treten.
Aufgabe: Der folgende Lückentext beschäftigt sich etwas intensiver mit den oben bereits erwähnten Grundlagen im Zusammenhang mit der Kommunikation und Beziehungsgestaltung mit Menschen mit Demenz. Fülle den Lückentext aus!
Begriffe: – kongruent – Gefühle – nonverbale Kommunikation – Eindruck – Unstimmigkeiten – Beziehungsebene – Einfühlungsvermögen – verbale Kommunikation – unbewusst – Echtheit –
Lückentext: Menschen mit Demenz sind noch lange „ansprechbar“
Eine Personenzentrierte Haltung entwickeln und einnehmen
Die Person-zentrierte Pflege (PZP) nach Tom Kitwood
Die Person-zentrierte Pflege ist ein Modell zur Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz, das durch den englischen Sozialpsychologen Tom Kitwood in den 90er-Jahren entwickelt wurde. Über viele Beobachtungsstudien konnte Kitwood die Momente des Wohlseins und Unwohlseins von Menschen mit Demenz erkennen, die durch Pflege und Betreuungskräfte beeinflusst und hervorgerufen werden können. Zudem entwickelte er ein Verständnis von Demenz, nachdem das Personsein von Menschen durch die Demenz bedroht ist und zu verschwinden droht. Pflege und Betreuung kann – Kitwoods Erkenntnis nach – die Demenz in ihrem Verlauf abmildern und sogar den Zustand der Person verbessern (sog. Remenz).
Zentral ist Kitwood’s Behauptung, dass Personsein nicht angeboren ist, sondern im Verlauf des Lebens von anderen Menschen immer und immer wieder verliehen wird. In diesem Zusammenhang ist eine person-zentrierte Grundhaltung, die durch Empathie, Akzeptanz und Kongruenz in der Beziehung gekennzeichnet ist, zentral. Über ein Bedürfnismodell (siehe Abb. „Bedürfnismodell nach Kitwood“) identifizierte Kitwood 12 Momente, die das Potential haben, positiv auf das Wohlbefinden und das Personsein von Menschen mit Demenz zu wirken; demnach dem Menschen mit Demenz sein Personsein zu verleihen (siehe Abb. „Positive Sozialpsychologie“).
Darüber hinaus erkannte Kitwood durch seine Beobachtungen eine Vielzahl von Momenten, die das Wohlbefinden negativ beeinflussen können und das Personsein gefährden, bzw. untergraben (siehe Abb. „Negative Sozialpsychologie“).
Nach Kitwood stellt der Erhalt des Personseins das oberste Ziel in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz dar. Eine Grundvoraussetzung für den Erhalt der Persönlichkeit sieht er in der Befriedigung der sechs zentralen seelischen Bedürfnisse (siehe Abbildung), ohne deren Befriedigung ein Mensch nicht einmal minimal funktionieren kann. Die Bedürfnisse sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark ausgeprägt, ihre Befriedigung ermöglicht, es dem Menschen mit Demenz, sich als Person wahrzunehmen und positive Gefühle zu erleben.
Für eine gute Betreuung ist es enorm wichtig, die „innere Welt“ der Person mit Demenz, d. h. ihre Wahrnehmung, das Erleben und die Denkvorgänge zu verstehen und in den Mittelpunkt aller Bemühungen zu stellen. Die Pflegequalität in der Betreuung von Menschen mit Demenz hängt also primär von der Qualität der Beziehung und der Interaktionsfähigkeit der Pflegenden ab.
Dateidownload/ Zusatzmaterial: Wir haben dir ein Infoblatt zur „Person-zentrierten Pflege“ für deine Unterlagen zusammengestellt.
Zum Weiterlesen: Einen interessanten Artikel zur „Person-zentrierten Pflege“ hat Karin Welling in der Zeitschrift Unterricht Pflege 5/2004 veröffentlicht. Auf der Seite des Prodos-Verlag ist der Artikel frei verfügbar (Downloads: Unterricht Pflege 01/2010).
Aufgabe: Ordne den Bedürfnissen nach Kitwood die entsprechenden Beispiele zu!
Drag and Drop
Merke: Kitwood entwickelte seinen „Person-zentrierten Ansatz“ als Reaktion auf eine eindimensionale und defizitorientierte Sozialpsychologie und Pflegekultur.
Zentrales Element seines Ansatzes ist es, Menschen mit Demenz nicht länger zu depersonalisieren und damit den Erhalt des Personseins zu fördern.
„Unser Bezugsrahmen sollte nicht länger die Person-mit-DEMENZ sondern die PERSON-mit-Demenz sein“ (Kitwood, 2005, S. 25)
Diese „Person-zentrierte Haltung“ ist insbesondere durch Empathie, Akzeptanz und Kongruenz in der Beziehung gekennzeichnet. Mit seinem Absatz wandte sich Kitwood gegen ein bis dato vorherrschendes defizitorientiertes Bild der „Demenzkranken“ und leitet einen Paradigmenwechsel hin zu einer neuen Kultur der Demenzpflege ein (siehe Abbildung).
Das VIPS-Modell zur Pflege und Betreuung von Menschen mit einer Demenz
Die englische Autorin Dawn Brooker hat ausgehend von den Arbeiten Kitwood’s versucht, eine allgemein anerkannte Definition des Begriffes „personzentrierte Pflege“ zu erarbeiten. Herausgekommen ist ein Modell, in dem sie die vier wesentlichen Schlüsselelemente der personzentrierten Pflege zusammenführt (siehe Abbildung).
Drag and Drop
Eine validierende Grundhaltung einnehmen
Naomi Feil, die Begründerin der Validation, geht davon aus, dass Menschen, die in hohem Alter an einer Demenz erkranken, aus zwei Gründen das Bedürfnis haben, sich in ihre Vergangenheit zurückzuziehen. Zum einen, weil diese Zeit für sie wichtiger und angenehmer war, als die von Verlusten geprägte Gegenwart es ist. Und zum anderen, weil sie sich innerlich mit alten Konflikten beschäftigen, die sie in der Vergangenheit nicht bewältigen konnten. Feil war eine der Ersten, die in der Arbeit mit Menschen mit Demenz neue Wege eingeschlagen hat. Sie versuchte nicht, die Betroffenen an der „Realität“ zu orientieren und mit Tatsachen zu konfrontieren. Stattdessen erkannte sie, dass Einfühlung in die Motive und Gefühle, d. h. „die Welt der Betroffenen“ viel wichtiger ist. Validieren bedeutet: als gültig und berechtigt anerkennen.
Oftmals sind die Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz für Pflegende und Angehörige unverständlich und auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar. Wichtig ist es jedoch zu verstehen, dass die Gefühle und Motive, die hinter den „verwirrten“ Äußerungen und Verhaltensweisen stehen, aus Sicht der Betroffenen echt und berechtigt sind.
Frau Schuster läuft unruhig im Wohnbereich umher und klagt: “Ach Gott, ach Gott!” Als Pflegefachfrau Lisa Bernd fragt, ob sie ihr helfen könne, sagt Frau Schuster: “Die Jutta ist heute den ganzen Tag unterwegs mit der Schule. Die machen einen Wandertag. Aber sie hat die Butterbrote vergessen. Jetzt hat sie bestimmt Hunger. Das arme Kind!” Jutta ist Frau Schusters 56-jährige Tochter Anna.
Nicole Richard entwickelte Feils Methode der Validation weiter und nannte ihre Form des akzeptierenden Umgangs mit Menschen mit Demenz Integrative Validation (IVA).
Slideshow
Zum Weiterlesen: Einen interessanten Artikel zur „Kommunikation und Körpersprache mit Menschen mit Demenz“ hat Nicole Richard in der Zeitschrift Unterricht Pflege 5/2004 veröffentlicht. Auf der Seite Integrative Validation nach Richard ist der Artikel frei verfügbar.
Richard beschreibt die Situation der von einer Demenz betroffenen Menschen mit folgendem Bild: Menschen mit Demenz bewegen sich in der Realität der „Gesunden“ wie im Nebel. Die Welt der Gesunden ist für sie undurchsichtig und es fällt ihnen sehr schwer sich zurechtzufinden. Der Mensch mit Demenz zieht sich daher auf Lichtungen in diesem Nebel zurück, wo wer Klarheit besitzt und sich sicher fühlt. Die Lichtungen bestehen aus Erinnerungen an Gefühle, die mit wichtigen Ereignissen in der Biografie der Person verbunden sind. Die Gefühle werden von ihnen deutlich erlebt, auch wenn die mit ihnen zusammenhängenden Ereignisse schon längst der Vergangenheit angehören. Menschen mit Demenz können aus dieser Lichtung im Nebel nicht in die Realität der „Gesunden“ kommen, aber man kann ihnen auf seiner Lichtung begegnen und besuchen. Dies ist dann möglich, wenn eine vertrauensvolle Beziehung besteht, die die innere Welt des Menschen mit Demenz akzeptiert. Wir, die „Gesunden“, müssen also Brücken bauen, um die Begegnung auf der Lichtung zu ermöglichen.
Antriebe, Gefühle und Schlüsselwörter
Die Integrative Validation orientiert sich an der Erfahrungswelt und den Ressourcen der Menschen mit Demenz. Richard geht davon aus, dass Antriebe und Gefühle bei Menschen mit Demenz noch lange „gesund“ bleiben und als Ressourcen zur Verfügung stehen: Antriebe sind Stärken, persönliche Fähigkeiten und Orientierungen aus dem Leben. Sie beruhen auf früh erlernten Normen und Regeln, lassen sich lebensgeschichtlich herleiten, wirken als Triebfeder und Motor für das Handeln, haben eine persönliche Ausprägung und Gestaltung und bleiben im Verlauf der Demenz noch sehr lange erhalten. Beispiele für Antriebe sind: Ausdauer, Bescheidenheit, Charme, Disziplin, Ehrgeiz usw. Gefühle werden von Menschen mit Demenz, als Reaktion auf Erfahrungen mit der Umwelt oder gegenüber Personen, spontan geäußert. Sie sind für das Umfeld häufig der einzige verbleibende Kompass für den Umgang mit Menschen mit Demenz. Als Lebensthema bezeichnet Richard die großen Themen aus dem Leben des Menschen mit Demenz. Diese können sich sowohl auf den Beruf, auf ein Hobby oder eine soziale Rolle beziehen. Beispiele für Lebensthemen sind: „Der Lehrer“, „Die Taubenzüchterin“ oder „Die Mutter“. Schlüsselwörter stehen mit dem Lebensthema im engen Zusammenhang. Sie kennzeichnen die begrifflichen Elemente aus dem Leben des Menschen mit Demenz und sind Trigger für biografiebezogene Erinnerungen. Schlüsselwörter im Zusammenhang mit dem Lebensthema „Lehrer“ sind z. B.: Schule, Tafel, Kreide, Schulhof usw.
Merke: Die IVA bestätigt und benennt die Gefühle und Antriebe des Menschen mit Demenz, erklärt sie für gültig und Richtung weisend.
Die Hotspot-Aktivität verdeutlicht die Methodik der IVA am Lebensthema der Chefsekretärin.
Dateidownload/ Zusatzmaterial: Wir haben dir ein Arbeits- und Infoblatt zur “Integrativen Validation” für deine Unterlagen zusammengestellt.
Der YouTube-Kanal “Altenpflege” hat eine Videoreihe mit acht Lehrvideos zur Integrativen Validation veröffentlicht. Das erste der acht Videos haben wir Ihnen hier verlinkt.
Aufgabe: Im nachfolgendem Worträtsel haben sich sieben Schlüsselbegriffe der Integrativen Validation versteckt. Finden die Begriffe!
Exkurs: Realitätsorientierungstraining (ROT)
Mit der Validation und dem Realitäts-Orientierungs-Training (ROT) stehen zwei gänzlich gegensätzliche Konzepte für die Betreuung von Menschen mit Demenz zur Verfügung. Während Validation den Betroffenen in seiner ganz eigenen Welt belässt, versucht ROT den Betroffenen – so weit wie möglich – wieder in die Realität zu bringen.
Die Realitätsorientierung fokussiert dabei auf die Memorierung von Informationen und die Orientierung zu Raum, Zeit und Personen. Der Grundgedanke ist, den Menschen mit Demenz zu ermöglichen, sein Umfeld besser wahrzunehmen und daraus resultierend, mehr Selbstkontrolle und Selbstvertrauen zu entwickeln. Die Pflegepersonen involvieren die Pflegenutzer, möglichst bei jedem Kontakt, in realitätsorientierte Kommunikation (24h-ROT). Dieser Ansatz des ROT wird heute aus vielerlei Gründen kritisiert. Das hat dazu geführt, dass von der ursprünglichen Konzeption abgewichen wird.
Aufgabe: Trage die Kritik am ROT zusammen und stelle heraus, wie sich die Anwendung des Konzepts im Laufe der Zeit gewandelt hat und welche Elemente auch heute noch zur Anwendung kommen.
Dieses Lernarrangement zitierst du so:
Pongrac, L. & Struve, M. (2020). Menschen mit Demenz begleiten. TafakariHub.
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