Menschen mit Demenz begleiten

Kapitel 2: Die Demenz als Syndrom verstehen

Autoren: Lars Pongrac & Miriam Struve

Diagnostik der Demenz ist nicht leicht!

Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Diagnosestellung einer Demenz ergeben sich aus den häufig unklaren Grenzen zwischen „gesund“ und „krank“. Hinzu kommt, dass sich auch die verschiedenen psychischen Störungen nicht immer eindeutig unterscheiden lassen. Häufig tritt ein und dasselbe Symptom im Zusammenhang mit den verschiedensten Störungsbildern auf. Denken Sie nur mal an die Gemeinsamkeiten bezüglich der Symptome einer Demenz und einer Depression. Noch komplizierter wird es, wenn mehrere Erkrankungen mit denselben Störungsbildern gleichzeitig vorliegen und die Ursachen nicht eindeutig zuzuordnen sind.

Schwierigkeiten bei der Diagnose

Demenz ein Syndrom

Demenzen sind an bestimmten Symptomen zu erkennen, die zusammen ein typisches Krankheitsbild ergeben. Ein solches Zusammentreffen von charakteristischen Symptomen wird als Syndrom bezeichnet. Wir sprechen daher auch von einem demenziellen Syndrom. Das auffälligste Symptom eines demenziellen Syndroms ist die Gedächtnisstörung. Diese wird daher auch als Leitsymptom der Demenz bezeichnet. Hinzu kommen weitere Störungen der kognitiven Leistungsfähigkeit. Aber auch Nicht kognitive Symptome und Beeinträchtigungen des Alltags und der Lebensführung gehören zum Symptomkomplex.

Der ICD-10 definiert die Demenzerkrankungen wie folgt:

„Demenzerkrankungen sind definiert als erworbene Beeinträchtigung höherer kognitiver Funktionen und Alltagskompetenzen. Bei den meist chronisch-fortschreitenden Verläufen kommt es zu Beeinträchtigungen vieler kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Sprechen und Urteilsvermögen. Gewöhnlich begleiten Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation die kognitiven Einbußen.“

Kriterien der Demenz nach ICD-10

Exkurs: Wahrnehmung und Kognition

Wahrnehmung ist ein Prozess, mit dem wir die Informationen, die von den Sinnessystemen bereitgestellt werden, organisieren und interpretieren. In hochkomplexen Wahrnehmungsprozessen extrahieren wir aus dem sich kontinuierlich verändernden, oft chaotischen Input von externen Energiequellen Bedeutungen und strukturieren sie zu stabilen, geordneten Perzepten bzw. Wahrnehmungen (siehe Abbildung).

Menschen mit Demenz sind meist in allen drei Stufen der Wahrnehmung mehr oder weniger stark eingeschränkt: So kann etwa die Aufnahme eines Reizes und die Weiterleitung an das Gehirn aufgrund demenzieller Prozesse beeinträchtigt sein. Auch das Zusammenfügen von Sinnesdaten mit bereits im Gedächtnis verankerten Wissen gelingt Menschen mit Demenz meist nur sehr eingeschränkt, genauso wie die Zuweisung von Bedeutung. Insgesamt zeigt sich aufgrund der genannten Beeinträchtigungen der Wahrnehmungsprozesse ein Verhalten, dass als „verwirrt“ bezeichnet werden kann. In welcher Ausprägung bzw. -gestaltung sich die Verwirrtheit zeigt, hängt dabei entscheidend davon ab, welche Stufen der Wahrnehmung betroffen sind und welche Gedächtnisinhalte weiterhin von der betroffenen Person erinnert werden können.

Die NANDA-I kennt im Zusammenhang mit dem diagnostischem Foki „Verwirrtheit“ drei Pflegediagnosen: „Akute Verwirrtheit“, „Chronische Verwirrtheit“ und „Risiko einer akuten Verwirrtheit“

Aufgabe: Schlage die oben genannte Pflegediagnosen in der NANDA-I Klassifikation nach. Wann würdest du welche Diagnose nutzen? Halte deine Gedanken schriftlich fest. Nutze zur Erarbeitung der Pflegediagnose(n) die Arbeitshilfe „Pflegediagnosen erarbeiten“.

Depression, Delia oder Demenz

Wenn ein Mensch kürzlich erlebtes schnell vergisst und sich selbst bei einfachen Tätigkeiten kaum konzentrieren kann, muss nicht immer eine Demenz schuld sein. Eine Reihe von Krankheiten haben ähnliche Symptome, beruhen aber auf ganz anderen Ursachen. Dazu zählen u. a. die Depression und das Delir. 

Bei den psychischen Erkrankungen älterer Menschen ist es hauptsächlich die Depression, die das Verhalten und Erleben oft so verändert, dass der Erkrankte Mensch in seinem sozialen Umfeld als „verwirrt“ erscheint. Depressionen sind affektive Störungen, die mit dem Leitsymptom einer niedergedrückten, traurigen Stimmung einhergehen. Menschen mit Depressionen verlieren Motivation und Interesse, leiden häufig unter Schlafstörungen und können sich nicht gut konzentrieren. Ursachen von Depressionen können psychische Konflikte, Traumata, aber auch Störungen des Transmitterhaushalts sein. Daneben können Depressionen auch als Symptom organischer Grunderkrankungen auftreten (z. B. Hypothyreose) oder durch die Einnahme bestimmter Medikamente entstehen. Eine Depression von einer Demenz abzugrenzen, fällt auch erfahrenen Ärzten oft nicht leicht, obwohl sich die Erkrankungen in einigen Merkmalen voneinander unterscheiden:

  • Depressive Menschen klagen oft über ihre Beschwerden, während Menschen mit Demenz diese gerne vertuschen.
  • Für Depressionen gilt: Nahestehende Menschen können oft relativ eindeutig beantworten, wann die Symptome begonnen haben. Eine Demenz dagegen entwickelt sich schleichend. Genaue Angaben zum Beginn der Symptome können vom Umfeld häufig nicht gemacht werden. 
  • Depressionen verschlimmern sich manchmal innerhalb weniger Wochen. Eine leichte Demenz kann Jahre dauern, ohne dass die Symptome zunehmen. 
  • Depressive Menschen klagen häufig darüber, dass die Erinnerung insgesamt verblasst. Menschen mit Demenz im frühen Stadium erinnern sich noch gut an die fernere Vergangenheit.
Setzt die Verwirrtheit plötzlich ein, dann ist die häufigste Ursache hierfür ein Delir. Unter einem Delir versteht man einen akuten Verwirrtheitszustand aufgrund organischer Ursachen, der durch Störungen des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung und des Denkens, der Orientierung, der Psychomotorik, des Schlaf-Wach-Rhythmus sowie durch affektive Störungen gekennzeichnet ist. Das Delir geht mit vegetativen Symptomen einher, die in einem Kreislaufversagen gipfeln können. Ein echtes Delir ist daher stets als potenziell lebensbedrohlicher Notfall zu behandeln. Differenzialdiagnostisch spricht ein akuter Beginn und die in den meisten Fällen gegebene zeitliche Begrenzung (unter einem halben Jahr) für das Vorliegen eines Delirs.
 
Weitere Auslöser demenzartiger Symptome sind z. B. Diabetes, Schädelhirntraumen, Alkoholsucht und Morbus Wilson.

Demenz ist nicht gleich Demenz!

Das Symptombild der Demenz umfasst Einbußen an kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten, die zu einer Beeinträchtigung sozialer und beruflicher Funktionen führen. Vor allem betroffen sind das Kurzzeitgedächtnis, das Denkvermögen, die Sprache und die Motorik; bei einigen Formen kommt es auch zu Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur. Kennzeichnend für die Demenz ist der Verlust von Denkfähigkeiten, die bereits im Lebensverlauf  erworben wurden (im Gegensatz z. B. zur angeborenen Minderbegabung).

Image Hotspot

Merke: Zu den kognitiven Symptomen der Demenz gehören die sechs Denk-Ausfälle (A):

Amnesie (Gedächtnisstörungen),
Apraxie (Handlungsunfähigkeit),
Aphasie (Wortfindungsstörungen),
Agnosie (Störung des Erkennens),
Abstraktions- (Rechen-) und
Assessmentstörung (Urteilsstörungen)

Aufgabe: Setze dich mit der medizinischen Diagnostik der Demenz auseinander. Nutze dazu die nachfolgende Quelle. Überprüfe dein Wissen im Anschluss mithilfe der nächsten Lernaktivität.

Pflichtlektüre: Kurz, A., Freter, H.-J., Saxl, S. & Nickel, E. (2019). Demenz. Das Wichtigste. Ein kompakter Ratgeber.Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.

Question Set

Screenshot DIMDI

Im Rahmen der ausführlichen Demenzdiagnostik wird unter anderem auch der Schweregrad der Erkrankung ermittelt. Hierzu werden in der Regel kognitive Tests wie z. B. der Mini-Mental-Status-Test (MMST) genutzt.  Die Schweregradeinteilung geschieht hauptsächlich um abschätzen zu können, welche Herausforderungen zu erwarten sind, ob Gefahren für den Betroffenen oder seine Bezugspersonen bestehen und ob ein aktueller Unterstützungsbedarf vorliegt. 

Merke: Kognitive Tests nehmen die kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen in den Blick und ziehen davon ausgehend Rückschlüsse auf die Fähigkeit der Alltagsbewältigung und Lebensführung der Betroffenen. Zudem dienen sie als Screeninginstrument zur Ersteinschätzung und zur Verlaufskontrolle. 

Aufgabe: Setze dich exemplarisch mit dem Mini-Mental-Status-Test auseinander. Nimm dazu die einzelnen Fragen (Items) genau in den Blick und übe Kritik. Den Test findest du auf der Seite des DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information; Stichwort: MMST).

LinkTIPP: Eine Übersicht der wichtigsten Assessments in der Geriatrie findest du auf der Seite Kompetenz Zentrum Geriatrie.

Dateidownload/ Zusatzmaterial: Wir haben dir eine „Übersicht zur Demenzdiagnostik“ für deine Unterlagen zusammengestellt.

Der "3-Welten-Verlauf" der Demenz

Der „3-Welten-Verlauf“ nach Held ist ein Konzept zur Millieugestaltung. Menschen mit Demenz werden in Pflegeeinrichtungen, die dieses Konzept anwenden, je nach Stadium ihrer Erkrankung in drei unterschiedlich gestalteten Bereichen betreut und gepflegt.

Der Verlauf der nicht heilbaren Demenzen kann grob in drei Schweregrade eingeteilt werden:

Im ersten Stadium machen sich die Gedächtnisstörungen im Alltag bemerkbar. Ungewohnte (neue) Tätigkeiten bereiten der betroffenen Person Schwierigkeiten. Oft werden diese Tätigkeiten deswegen möglichst vermieden. Die selbstständige Lebensführung im gewohnten Umfeld ist aber in der Regel noch möglich.

In zweiten Stadium wird die Hilfe anderer Personen notwendig, z. B. bei der Körperpflege und dem Zubereiten der Nahrung.

Im dritten Stadium sind die betroffenen auch bei den einfachsten Aktivitäten des täglichen Lebens  auf Hilfe angewiesen. Im Endstadium können erkrankte Personen nicht mehr sprechen, sind zum größten Teil immobil und von der Pflege in nahezu allen Bereichen abhängig. Der Tod tritt häufig durch Begleiterkrankungen wie z. B. eine Pneumonie ein.

Die Übergänge zwischen den Schweregraden sind fließend und variabel, sodass eine genaue Abgrenzung oft nicht möglich ist. Es können verschiedene Bereiche in unterschiedlichem Ausmaß betroffen sein (z. B. der Mensch mit Demenz zeigt neu aufgetretene aggressive Tendenzen, während die Kognition nur leicht eingeschränkt ist) und die Entwicklungsgeschwindigkeit in den Bereichen kann unterschiedlich rasch voranschreiten. Um den Krankheitsverlauf gut beurteilen zu können, ist nicht die Einordnung in ein Schema ausschlaggebend, sondern die Beschreibung der Defizite in den einzelnen Bereichen.

Aufgabe: Nimm dir ein Arbeitspapier zur Hand und skizziere (schriftlich) eine Pflegeeinrichtung in welcher das „Drei-Welten-Konzept“ nach Held umgesetzt wird. Nutze ggf. folgende Leitfragen:

a) Wie sind die einzelnen „Welten“ baulich verwirklicht? Wie sind sie eingerichtet?

b) Welches Personal (mit welchen Qualifikationen) kümmert sich in den jeweiligen Bereichen um die Pflegenutzer?
c) Was kennzeichnet die Pflegenutzer in den jeweiligen Bereichen? Welche Bedürfnisse haben diese voraussichtlich?

Demenzielle Erkrankungen haben Gemeinsamkeiten!

Trotz der sehr vielfältigen Ursachen weisen die verschiedensten Formen der Demenz gemeinsame Merkmale auf. 

Gemeinsamkeiten der demenziellen Erkrankungen
Übersicht - primäre und sekundäre Demenzen

Formen der Demenz

Die verschiedenen Formen der Demenz lassen sich in primäre und sekundäre Demenzen einteilen. Auf die primären Demenzen entfallen ca. 90 Prozent der Fälle. Hier liegt die Ursache direkt im Gehirn (Absterben von Hirnzellen etc.). Primäre Demenzen lassen sich weiter in neurodegenerative und vaskuläre Demenzen unterteilen. Die restlichen 10 Prozent sind den sekundären Demenzen zuzuordnen. Hier liegt als Ursache der Demenz eine Störung oder Erkrankung außerhalb des Gehirns zugrunde.

 

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Pongrac, L. & Struve, M. (2020). Menschen mit Demenz begleiten. TafakariHub.

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